Blind gebaut
Wolfgang Hermann denkt und baut groß. Der 73-Jährige hat sich ein Haus mit 930 Quadratmetern gebaut – und das, ohne etwas zu sehen.
Wolfgang Hermann baut sich ein Haus mit 930 Quadratmetern. Bisher hat er über einen Kilometer Elektroleitungen verlegt, ca. 320 Quadratmeter Innenwände gemauert, rund 3,5 Kilometer Dachlattenverarbeitet. Eine beachtliche Leistung, besonders weil Wolfgang blind ist. Im Interview erzählt er, wie das überhaupt geht.
MACHER: Du hast in den 90er-Jahren mit dem Bau Deines Hauses begonnen. Da warst Du schon blind?
Ja, ich hatte mit sechs Jahren einen mehrfachen Schädelbasisbruch, der nicht richtig diagnostiziert und behandelt wurde. Dadurch blies sich mit der Zeit die Hauptschlagader auf und drückte mir die Sehnerven ab. Im Laufe der Jahre wurde meine Sehkraft immer schlechter: Als ich 17 war, hatte ich eine Sehkraft von weniger als zwei Prozent. Mit Anfang Dreißig war ich komplett blind.
Wie kam es, dass Du Dir das überhaupt zugetraut hast?
Das kam ja nicht aus dem Nichts. Als ich mit Anfang Dreißig nicht mehr als Metallgießer arbeiten konnte, machte ich mein Hobby, das Handwerken, zu meiner Berufung.
Ich renovierte ein Haus, das 500 Jahre alt war. Da meinte ein Nachbar zu mir: „Nu reiß doch die alte Bruchbude ab“. Ich habe mir gedacht: „Rede nur“. Als der Umbau nach acht Jahren fertig war, war aus dieser alten Bruchbude das schönste Haus weit und breit geworden. Ich wusste also, dass ich so etwas kann. Als ich dann ein blindengerechtes Haus für mich wollte, ich mir aber nichts Passendes leisten konnte, war die Lösung klar: Selber bauen.
Ich habe die Grundplanung gemacht, den Grundriss im Maßstab 1:10 auf Spanplatten aufgetackert und danach ein Modell im Maßstab 1:50 gebaut. Ein Architekt hat mir dann den genauen Eingabe-Plan gezeichnet.
Dann ging es los?
Ja, mit mauern, Leitungen verlegen, verfliesen. Alles, was dazu gehört.
An manchen Stellen hatte ich Unterstützung. Bei den tragenden Wänden, der Betondecke und dem Dachstuhl zum Beispiel. Das Verdrahten hat auch ein Elektriker übernommen. Ich sehe ja die Farben der Drähte nicht.
Wolfgang hat vollständig blind ...
- 320m² Wände gemauert, inklusive der 15 Türöffnungen und 6 Rundbögen
- 1 km Elektroleitungen verlegt
- 350 Schalter und Abzweigdosen eingebaut
- 3,5 km Dachlatten verbaut
- 110 kg Nägel verbraucht
In erster Linie bin ich Kopfwerker, in zweiter Linie Handwerker.“
Wolfgang Herrmann
Wie oft wirst Du gefragt: „Blind handwerken. Wie soll das gehen?“
Tatsächlich höre ich manchmal Sätze wie: „Der kann nicht blind sein, sonst könnte er das doch gar nicht machen. Ein bisschen was muss er doch sehen.“ Viele fragen auch: „Wenn man blind ist, darf man da auf dem Dach überhaupt arbeiten?“. Also mir ist es ein Rätsel, wie man da runterfallen kann. Ich arbeite auch mit allen Maschinen – Tischkreissäge, Handkreissäge, Kapp- und Gehrungssäge, Trennschleifer – immer unfallfrei. Ich überlege mir eben jeden Arbeitsschritt immer genau im Voraus. Deswegen passiert mir auch nichts. Ich sage immer: In erster Linie bin ich Kopfwerker, in zweiter Linie Handwerker.
Welche Rolle spielt Dein Tastsinn?
Wie bei jedem Blinden läuft so gut wie alles darüber. Ein Blinder braucht immer zwei Hände mehr als ein Sehender: eine zum Fühlen, eine zum Arbeiten, zwei zum Festhalten. Viele denken auch, dass mein Gehör außergewöhnlich gut ist. Doch dem ist nicht so: Ich höre nicht besser, ich achte einfach nur stärker auf Geräusche.
Das 930-Quadratmeter-Haus
Wolfgangs Haus hat einen u-förmigen Grundriss. Darauf erheben sich zwei Stockwerke mit fünf Zimmern und Gästeappartement. Der Hauptbau ist 24 Meter lang, die Seitenflügel rechts und links jeweils 20 Meter. Der Innenhof öffnet sich nach Südwesten. Im Parterre befinden sich eine große Garage, ein Hallenbad sowie Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, ein Raum für die Terrassenmöbel, und ein Raum für Werkzeuge.
Im Dachgeschoss sind das Schlafzimmer und zwei weitere Zimmer sowie ein Gästeappartement, das Badezimmer und der Dachboden. Im Keller, in dem Wolfgang momentan wohnt, um das Haus ausbauen zu können, befindet sich außerdem die Werkstatt.
Hast Du eine besondere Ausstattung?
Ich habe mir einen speziellen Bohrtisch gebaut. Mit einem Bohrmaschinenständer – damit ich die Hände frei habe –, einer zwei Meter langen Arbeitsplatte – damit ich auch große Bretter bearbeiten kann – und verschiebbarem Längs- und Queranschlag – damit ich die richtigen Abstände einstellen kann.
Eines der Werkzeuge, die ich am häufigsten nutze, ist mein Blindenzollstock. Darauf sind die Maße mit Erhebungen gekennzeichnet. Ich setze oft selbst gebaute Schablonen ein. Zum Beispiel für Schalterdosen. In diesen sind drei Löcher in Reihe und mit den gleichen Abständen zueinander gebohrt. Die muss ich dann nur an die Wand anhalten, Bohrmaschine ran – und fertig. Es bringt mir ja schließlich nichts, mit dem Bleistift Abstände an der Wand zu markieren.
Außerdem arbeite ich viel mit Holzklötzen in verschiedenen Längen und Stärken. Die benutze ich wie ein Lineal, um immer die gleichen Abstände einhalten zu können.
Gibt es auch ein bestimmtes Ordnungssystem?
Ja, das ist ganz wichtig. Meine Werkzeuge und meine Materialien haben einen festen Platz. Die Hämmer und Zangen liegen zum Beispiel immer in den Fächern meiner Werkbank. Nägel, Schrauben, Schraubzwingen und all so was sortiere ich der Größe nach, von links nach rechts größer werdend.
Was ist das Besondere an Deinem Haus?
Dass die Sonne im Winter den ganzen Tag in das Haus scheint, weil die Seitenflügel jeweils in einem Erker enden. Im Sommer scheint die Sonne nicht direkt ins Haus, das ist perfekt, damit es nicht zu heiß wird. Die Fenster sind dann immer im Schatten, weil die Dachüberstände entsprechend bemessen sind. Wenn die Sonne hoch steht, kann sie nicht mehr in die Fenster scheinen.
Eine weitere Besonderheit meines Hauses sind die Treppen: Für Blinde sind Treppen immer schwierig, weil man nicht weiß, wann sie kommen. Ich habe die äußere Kellertreppe als gestalterisches Element verwendet und sie ins Haus eingerückt. Das heißt, eine kleine Nische geht ins Gebäude hinein. Wenn ich ums Haus rumgehe, gehe ich immer an der Kellertreppe vorbei. Ich kann nie versehentlich runterfallen, weil die Kellertreppe ca. 1,50 Meter eingerückt ist. Wenn ich da runtergehen will, muss ich entweder rechts herum oder links rum abweichen. Bei der Innentreppe gehe ich an der Wand entlang, bis ich zu einem Mauervorsprung komme, ca. 80 Zentimeter breit. Wenn ich an diesen stoße, gehe ich einen Schritt nach rechts und bin vor der Treppe. Das ist alles extra so geplant.
Was gibt es noch zu tun?
Ich muss unter anderem noch gut 700 Quadratmeter Holzdecken verbauen. Auch den Garten werde ich mit einem Freund noch auf Vordermann bringen. Und wenn am Ende alles fertig ist, kann ich sagen: „Das hab ich geschafft.“ Das ist etwas Greifbares, dafür brauche ich keine Augen.
Text: Esther Acason | Fotos: © Stefan Hobmaier
Die Podcast-Folge dazu
In den Werkstattgesprächen erzählt Wolfgang noch mehr über Sorgfalt, Zeit und Möglichkeiten.