Das Leben ist zu kurz für nur ein Projekt
Pyramidenbauer, Motorradreparateur, Parkettretter, Zahnarzt: Freizeit kennt Harald nicht. Sein Leben gehört seinen Projekten.
Harald Geiling, 62, steht zwischen Gussrädern, Werkbänken und Messuhren in seiner Werkstatt für verunglückte Motorräder. In Jeans und einer blauen, von Schmutz und Öl schwarz gefleckten Jacke hantiert er an der Rahmenrichtbank. Darin steckt ein Motorradrahmen. Durch einen Auffahrunfall ist er um 22 Millimeter gestaucht, das hat den Lenkkopfwinkel des Rahmens verändert, und das wiederum sorgt jetzt dafür, dass das Vorderrad am Kühler schleift. Kann so nicht bleiben, muss wieder gestreckt werden. Harald fährt die Rahmenrichtbank hoch: „Ich finde Reparaturen absolut geil, vor allem, wenn andere sagen: Das geht nicht. Das ist das Allerschönste.“
Ich finde Reparaturen geil. Vor allem, wenn andere sagen: Das geht nicht.“
Harald Geiling
Das, was Harald hier in Mainz macht, macht nur noch eine andere Werkstatt in Deutschland. In seinem Regal warten Räder aus Ibbenbüren, Oerlenbach und Coburg darauf, wieder fahrtauglich gemacht zu werden. Harald stellt den Laserstrahl ein. Mit ihm kontrolliert er, dass er beim Langziehen und Geradebiegen am richtigen Punkt landet. „Mit allen anderen gängigen Messverfahren geht das nicht“, erklärt er. Darum hat er sich die Idee mit dem Line-Laser patentieren lassen.
Ganz klein hat er 1978 angefangen: ärgert sich damals darüber, dass teure Gussräder nach einer Beschädigung gleich entsorgt wurden. Als er sich dranmacht, sie zu reparieren, gab’s in der Branche einen Aufschrei: „Das geht doch nicht!“ Das erste Rad, das bei ihm landete, hatte nach dem Unfall eine Acht. Abweichung: drei Millimeter. Erster Biegeversuch mithilfe von Druck und Hitze: 1,5 Millimeter. Und dann: null. „Ich habe ein Gefühl gehabt wie GalileoGalilei: … und es dreht sich doch!“
Harald packt an, was andere für unmöglich halten. Und am liebsten alles gleichzeitig, oder zumindest dicht aufeinander. Das hat er schon immer so gemacht. Nach dem Abitur wollte er Zahnmedizin studieren, schlechte Chancen mit einem Schnitt von 3,2. Erst mal also eine Ausbildung zum Zahntechniker. Doch weil er schon immer gerne an Motorrädern herumgeschraubt hat, eröffnete er parallel mit einem befreundeten Mechanikermeister eine eigene Motorradwerkstatt. Ein halbes Jahr später bekam er den Studienplatz dann doch. „Damals dachten alle, ich mach den Laden wieder zu“, erzählt er. Aber Harald behielt die Werkstatt, studierte nebenbei. Und weil ihm auch das noch nicht reichte, setzte er den Meistertitel als Zweiradmechaniker obendrauf. Wie das, ohne Mechanikerausbildung? Laut Prüfungsordnung ging das, sofern man vorher eine abgeschlossene Ausbildung hatte. Und Harald war ja ausgebildeter Zahntechniker. So ließen sie ihn zur Prüfung zu, und er bestand.
Heute repariert Harald zwei Tage die Woche Zähne statt Zahnräder. Und setzt nebenbei noch andere Projekte um. Etwa dieses: 2004 baut er an der Autobahn in Mainz-Hechtsheim ein gigantisches Veranstaltungszentrum in Form einer Pyramide. 30 Meter hoch, 4000 Quadratmeter Fläche. Im Rhein-Main-Gebiet kennt sie fast jeder, täglich rauschen auf der Autobahn 120.000 Autos daran vorbei. Den Rohbau und die Fassade aus Edelstahl, Eternit und Glas hat er in drei Jahren hochgezogen. Zusammen mit Wiktor, einem seiner Mitarbeiter aus dem Motorradzentrum. Die 2000 Quadratmeter große Bodenplatte gießt er selbst, verlegt 600 Meter Abwasserrohre und mehr als drei Kilometer Heizschläuche für die Fußbodenheizung. Verbaut 60 Lastwagenladungen Steine und 20 Sattelschlepperlieferungen Fertigteildecken. Und im dritten Stock baut er mithilfe einer 120 Tonnen schweren Stahlkonstruktion auch noch ein Pyramidendach und eine verglaste Dachterrasse.
Warum er das alles selbst gemacht hat? Er kann einfach nicht anders: „Wenn ich sonntags die Zeitung gelesen habe, wird mir schnell langweilig“, sagt er, „dann muss ich Rennrad fahren. Oder was bauen.“ Er zeigt einen Plan, auf dem er mit dem Zirkel Kreise um ein Rechteck gezogen hat. Das Rechteck ist sein neues Motorradzentrum. Es soll gegenüber dem jetzigen Motorradhaus entstehen. Die Kreise zeigen, wie weit ein Kran reichen würde und wo er stehen müsste. Noch hat er keine Baugenehmigung.
Wenn ich sonntags die Zeitung gelesen habe, wird mir schnell langweilig. Dann muss ich Rennrad fahren. Oder was bauen.“
Harald Geiling
Richtig auf die Nase gefallen ist Harald noch nie, wenn er was gebaut hat. Sein Gefühl hat ihn immer rechtzeitig gewarnt. Zum Beispiel beim Bau der Pyramide. Ein Vermessungsbüro hatte die Orte der Punktfundamente definiert, auf denen die Stützen der Pyramide gesetzt werden sollten. Als Harald und Wiktor die Hälfte der Fundamente ausgehoben hatten, kam Harald auf die Idee, mal nachzumessen, ob sie auch richtig platziert sind. Ergebnis: waren sie nicht. So war die Grundfläche der Pyramide nicht quadratisch, sondern ähnelte eher einem Parallelogramm. „Gott sei Dank ist kein Schaden entstanden, weil ich es so früh gemerkt habe“, sagt Harald.
Schon als Kind hat er Dinge gebaut. Mit sechs ein Krocketspiel samt Schlägern, Kugeln und Toren aus Draht. Mit acht richtet er sich eine Werkstatt ein, die Regale baut er aus Sperrmüllholz. Mit 15 kauft er sich von seinem Taschengeld ein Schweißgerät und schraubt an seinem Moped. „Ich habe schon immer viel Geld in Werkzeug investiert und es wenn nötig weiterentwickelt“, sagt Harald. Und so hält er es noch heute. Kriegt er ein Motorrad mit noch nie da gewesenem Defekt rein, dann baut er eben Spezialwerkzeug, um es zu reparieren.
Ich beiß mich in Probleme rein, bis sie keine mehr sind.“
Harald Geiling
„Meine Frau sagt immer, sie finde es schrecklich, einen Mann zu haben, der handwerklich nichts kann“, erzählt er. Zu Hause war kürzlich ein Schlauch unter dem Parkett undicht, Wasser war ins Holz gezogen. „Wir haben die Parkettlatten rausgeholt und getrocknet, aber dann passten sie nicht mehr rein, 20 Millimeter haben gefehlt“, erzählt er. „Aber bei mir ist es eben so: Ich beiß mich in Probleme rein, bis sie keine mehr sind.“ In diesem Fall hieß das: Auf zwei Meter Länge brachte Harald alle zehn Zentimeter eine Acht-Millimeter-Schraube mit Langmutter ein, um die Parkettlatten wieder auseinanderzudrücken. Hat eine Woche lang jeden Tag nachgezogen. „So habe ich das Holz nach und nach in die alte Position zurückgeschoben, bis sie wieder reingepasst haben.“
Zurück an der Rahmenrichtbank: Harald zieht eine Thermodecke hervor und legt sie über den Motor im gestauchten Rahmen: „Muss ich machen, bevor ich mit dem Formen loslege. Ich muss das Ding jetzt ein bisschen warm machen.“ Dann greift er zum Flächenschweißbrenner, hält ihn an den Motorradrahmen. Rauch steigt auf am erhitzten Alurahmen. Er zieht die Lüftungshaube über die Richtbank und kontrolliert mit einem digitalen Temperaturmessgerät, ob das Metall schon heiß genug ist. Ist es. Harald tritt auf ein Pedal, zieht den Rahmen mithilfe einer Drucklufthydraulikpumpe vor. Das Motorrad verzieht sich unmerklich ... und knackt. „Aha“, sagt Harald, „fehlen noch acht Millimeter. Ganz schön gestaucht, der Apparat.“ Plötzlich knallt es laut. Das ist es, was Harald erreichen wollte: „Der Rahmen hatte wegen des Unfalls schief auf dem Motor gesessen. Jetzt sitzt er wieder gerade.“ Als er das nächste Mal, immer noch mit dem Fuß auf der Drucklufthydraulikpumpe, nachmisst, ist das Motorrad um zwölf bis 15 Millimeter „überzogen“. Gut so. „Das zieht sich zurück, wenn der Rahmen abgekühlt und spannungsfrei ist“, weiß er aus Erfahrung.
Dann klingelt sein Telefon. Sein Brandschutzingenieur ruft an, es geht um einen Umbau in der Pyramide. Harald spricht eine halbe Stunde mit ihm und ist danach genervt: „Das Bauen ist ganz leicht. Manchmal dauert es nur etwas, bis man sich mit der Bauverwaltung einig ist. Aber auch bei dem neuen Motorradzentrum wird das klappen.“ Bis dahin oder nebenbei renoviert er für seinen Sohn und dessen WG eine Wohnung in der Mainzer Innenstadt. „Am besten ist es, immer zwei bis drei Dinge gleichzeitig zu machen“, sagt er. „Das Leben ist zu kurz für nur ein Projekt.“
Text: Katrin Hummel I Fotos: Thomas Pirot