Der Eiskönig
In Duncan Hamiltons Werkstatt-Reich: Kettensägen, Messer, Meißel. Und ein Gefrierschrank. Der Brite stellt Eisskulpturen her. Seit 40 Jahren.
Ein Industriegebiet in Londons Südwesten. Autohäuser und alte Garagen ducken sich unter bleigrauem Himmel. Die Werkstatt mit der Nummer 54 ist das Reich von Duncan Hamilton. 72 Jahre alt – und seit 40 Jahren Eisschnitzer.
Das Weihnachtsgeschäft ist vorbei, und an diesem Freitagmittag kann er einfach tun, was er liebt: aus Eis schöne Figuren formen. Nicht für Kunden, sondern zum eigenen Vergnügen. Was besonders gut gelingt, postet er auf Instagram. Duncan, der „Icefluencer“.
Mich macht das Handwerk glücklich, nicht das Endprodukt.”
Duncan Hamilton
Duncan ist lange im Geschäft. Wie jeder, der mit Eis arbeitet, weiß er: Seine Kunst ist nicht für die Ewigkeit. Gerade das macht für ihn den Charme aus. „Die meisten Skulpturen sehen nur sieben Stunden wirklich gut aus. Mich macht das Handwerk glücklich, nicht das Endprodukt“, sagt er. Dann streift er seine Isolierhandschuhe über. „In dieser Werkstatt hat noch keiner Frostbeulen bekommen“, scherzt er.
Duncan trägt Rollkragenpullover und Seemannsmütze, in seinem freundlichen Gesicht sprießt ein grauer Stoppelbart. Erinnert sehr an Käpt’n Blaubär.
Kühl ist es in seiner Werkstatt, der Boden ist mit Plastikmatten ausgelegt, auf denen Eissplitter schmelzen. Neben der Werkbank brummt ein Gefrierschrank, groß wie ein Schiffscontainer. Duncans Rohstofflager. Darin friert er entkalktes Themsewasser zu Eis.
Er wuchtet einen 15 Kilo schweren quadratischen Eisblock aus dem Container. Ganz locker, kein Schnaufen, kein Stöhnen zu hören. Kaum liegt der Brocken auf der Werkbank, ritzt er mit dem Messer die Konturen eines Tieres hinein. Greift dann nach einem Meißel mit langem Holzgriff und einer Klinge aus legiertem Stahl.
Zack, zisch, zack! Mit präzisen, schnellen Hieben haut Duncan Eisstücke aus dem Block. Ruhig, routiniert und ziemlich schnell. Schon lassen sich Torso und Beine erkennen. Mit der Krummsäge schabt er dann Schnauze, Ohren und ein Maul aus dem Eis. Nun folgt der Feinschliff: Mit einem Mini-Meißel – die Klinge ist kaum messerspitzengroß – schabt er Augen aus dem Kopf. Fertig ist der Eisbär.
Eine Eisskulptur, circa 50 mal 40 Zentimeter groß. Gerade mal 15 Minuten hat er dafür gebraucht. Zufrieden betrachtet Duncan sein Werk. Eisbären faszinieren ihn. Sie brauchen Eis zum Glücklichsein – wie Duncan selbst. Und sie wurden zum Symbol für den Klimawandel.
„Ich setze mich schon lange für Umweltschutz ein. Dass die Erderwärmung Gletscher und Polkappen schmelzen lässt, macht mich traurig. Eis ist meine Passion. Eis ist mein Leben“, sagt Duncan. Und erzählt von seinem wichtigsten Auftrag.
Gemeinsam mit Sohn Jamie, der als Kind mit Eiszapfen als Bauklötzen spielte, hat er für Greenpeace auf dem Londoner Trafalgar Square einen 14 Tonnen schweren Eisbären geschnitzt. Der Clou: Unterm Eis verbarg sich ein Skelett aus Bronze. Das Eis schmolz, nur das Gerippe blieb übrig. Viele Passanten waren geschockt, machten Fotos von diesem traurigen Mahnmal.
Die Aktion wurde in Kanada, Europa und Australien wiederholt. „Es wäre wunderbar, wenn wir die Menschen mit solchen Arbeiten inspirieren könnten“, sagt Duncan. Vergangenen Winter war er auf Spitzbergen und hat sich einen Traum erfüllt: Eisbären in freier Wildbahn beobachten. Natürlich hatte er einen Eismeißel dabei. Und schnitzte vor der staunenden Reisegruppe mal eben das Gesicht eines Bären in einen angeschwemmten Eisbrocken.
Die Anfänge
Duncan und die Liebe zum Eis – diese Geschichte beginnt in den Küchen berühmter Londoner Luxushotels. Mit Anfang 20 zieht er von Nordengland in die Hauptstadt. Sein Traum: als Koch arbeiten. Er hat Glück und bekommt einen Job in der Großküche eines Luxushotels.
Jeder Tag ist anders. Das liebe ich an meiner Arbeit.”
Duncan Hamilton
Er ist fürs Dessertbüfett zuständig, rührt Schokoladenmousse und Eissorbets. Einen Tag wird er nie vergessen: Der Chefkoch taucht auf, hat einen extravaganten Wunsch. Pfirsich-Melba, aber nicht auf traditionelle Art. Heißt: nicht auf dem Teller, sondern im Gefieder eines Schwans aus Eis.
„Wer formt das Tier aus dem Eisblock? Freiwillige vor!“ Duncan hat den Mumm, sich zu melden. Und schabt mit Messer, Löffel und allem, was er sonst noch findet, am Eisblock herum. Am Ende sieht der Schwan besser aus als erhofft. Der Chefkoch ist beeindruckt. Und Duncan sagt: „Morgen schnitze ich einen Lachs. Fürs Fischbüfett.“
Duncan hat seine Leidenschaft entdeckt. Ein Job wird erst später draus. Er verlässt die Gastronomie, unterrichtet an einer Hochschule angehende Köche. Schnitzt nach Feierabend Eisschwäne für Hochzeitsgesellschaften. Seine Skulpturen sind echte Hingucker. Die Nachfrage ist groß. Sein Lehrerjob bringt ihm keinen Spaß mehr, und er beschließt: „Ich mache meine Leidenschaft zum Beruf.“ Mutige Entscheidung, immerhin muss er eine Familie ernähren. Es wird die beste Entscheidung seines Lebens.
„Jeder Tag ist anders. Das liebe ich an meiner Arbeit“, sagt Duncan. Während sein Eisbär in der Werkstatt zu tropfen beginnt, zeigt er Fotos seiner Werke. Eine Eisfrau auf einem finnischen See, Werbung für eine Wodkamarke. Eine im Eisblock eingefrorene Bierflasche. Der Motor eines Jaguar, aus Eis geformt. Ein gefrorener Roboter. Starkoch Jamie Oliver mit Kettensäge neben einer Fischskulptur.
Wenn Du mit Eis arbeitest, musst Du kreativ sein und improvisieren können.“
Duncan Hamilton
Doch sein größter Job passt auf kein Foto. Für das Winterwonderland im Londoner Hyde Park baute er eine Stadt aus Eis nach. Sechs Monate haben sechs Mitarbeiter und er jeden Tag acht Stunden gesägt, geschliffen, geschnitzt. Bis ein historisches Londoner Stadtviertel aus den Zeiten von Charles Dickens stand. Die einzelnen Stücke wurden in einer Industriekühlanlage in Dover aufbewahrt, neben Tonnen von Tiefkühlpommes. Sogar einen Pub aus Eis hat er gebaut – aus dem Schmelzwasser alter Figuren. „Ich verschwende nichts“, sagt Duncan.
„Wenn Du mit Eis arbeitest, musst Du kreativ sein und improvisieren können“, sagt Duncan und greift nach einem Werkzeug, das eher wie ein mittelalterliches Folterinstrument aussieht. Ein Brett mit einem Griff aus Holz, durch das Dutzende Schrauben gejagt wurden. Dient dazu, einen massiven Eisblock aufzurauen und abzuschleifen. „Eigene Erfindung“, sagt Duncan stolz.
Der Widerspruch des Elements Eis
„Eis kann Dir in Sekunden zwischen den Fingern zerrinnen. Und es kann Felsen, ja ganze Berge sprengen. Es ist fragil und gleichzeitig mächtig. Das macht es als Material so faszinierend“, sagt Duncan. Eisschnitzen als Kunsthandwerk verschwand nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Leute hatten Kühlschränke, niemand brauchte Eisblöcke, um Essen zu kühlen.
Nur in Russland und Japan wurde dieses Kunsthandwerk schon immer gepflegt. Duncan ließ sich von alten Meistern ins Eisschnitzen einführen. In der Ukraine lernte er, aus der Kette seiner Säge jeden zweiten Haken zu entfernen, um das Eis präziser schneiden zu können. In Japan entdeckte er die weltbesten Eismeißel: handgefertigt von einem japanischen Meisterschmied. Keine Frage: Der Mr. Miyagi der Eisschnitzer muss heute stolz auf ihn sein.
Duncan hat noch nie daran gedacht, in Rente zu gehen: „Mein Sohn kümmert sich ums Management. Er sagt mir, was ich zu tun habe.“ Duncan hat seine Passion vererbt. „Wir verstehen uns super, können viel Zeit miteinander verbringen und das tun, was wir lieben – wir wissen genau, was für ein Glück wir haben.“
Der Eiskönig wärmt sich die Hände an einer Tasse Kaffee und blickt auf seinen Eisbären, dem dicke Tropfen von der Schnauze perlen.
Duncan wird das Wasser sammeln und wiederverwenden – ein bisschen Eisbär lebt also in anderen Skulpturen weiter. Aber hat man ein kaltes Herz, wenn einen das nicht traurig macht?
Duncan schüttelt den Kopf. „Vielleicht steckt darin eine Lehre fürs Leben. Unsere Zeit ist begrenzt. Wir sollen das Hier und Jetzt genießen. Und am Ende bleibt eine schöne Erinnerung.“
Text: Reinhard Keck | Fotos: Greg Funnell
Eiskalte Kunst
Wer mehr über Duncan und seine Werke erfahren will, kann das hier tun.