Der Gemüse-Gigant
Felsengroße Kohlköpfe, neun Kilo schwere Gurken: Im Garten von Phillip Vowles ist alles ein paar Nummern größer. Wir werfen einen Blick hinter den Holzzaun.
Gäbe es Riesen und wären sie Vegetarier, ihr Paradies läge nicht im Jenseits. Sie fänden es hinter einer Doppelhaushälfte in Llanharry, einem Dorf im Süden von Wales. Es wäre der Schrebergarten von Phillip Vowles.
Dort wachsen in akkurat gezogenen Beeten Gurken, dick wie Baumstämme und über neun Kilo schwer. Daneben Kürbisse, monumental wie Obelix’ Hinkelsteine. Und Kohlköpfe: Neun Meter im Umfang – hinter ihren Riesenblättern könnte sich locker ein Sumoringer verstecken.
Phillip ist 69 und strahlt eine Energie aus, wie es wohl nur Menschen tun, die den Großteil ihres Lebens an der frischen Luft verbringen. Seit mehr als 40 Jahren ist er ein Giant Veg Grower, wie Riesengemüsezüchter in Großbritannien heißen.
Rückblende: Südwales, Ende der 50er Jahre.
Phillip sitzt am Esstisch. Mit Vater, Mutter und 14 Geschwistern. Und vor leeren Tellern. Obwohl sein Vater Tag für Tag im Bergbau schuftet, ernähren kann er seine Großfamilie kaum. Fleisch gibt es nur, wenn er einen Hasen erwischt. Meist kommt aber Bread Pudding auf den Tisch: Ein Auflauf aus trockenen Brotresten und Milch. Um besser über die Runden zu kommen, beginnt der Vater damit, selbst Gemüse anzubauen. Und Phillip lernt: Eine gute Ernte macht das Leben leichter.
Mit 14 verlässt er die Schule und heuert bei einem Bauern an. Dort lernt er Landwirtschaft: Pflanzen, hegen, pflegen, ernten. Und das Ganze von vorn. Als der Bauernhof den Besitzer wechselt, werden alle Angestellten entlassen: „Ich hatte keinen Führerschein. Und kann bis heute nicht gut schreiben, ich habe ja noch als Kind die Schule verlassen. Was hätte ich anderes tun sollen als gärtnern?“, erinnert sich Phillip. Also macht er sich selbständig als Gärtner. Und wird Mitglied, später Vorsitzender des örtlichen Gärtnervereins.
Bei der jährlichen Leistungsschau präsentieren Bauern besonders groß geratenes Gemüse. „Das Publikum war davon begeistert. Da dachte ich: Lass uns einen Wettbewerb daraus machen.” Es versteht sich von selbst, dass er einer der ersten Teilnehmer war. Phillip beginnt selbst mit der Zucht.
Alles ist organisch, was ich züchte, ist 100 Prozent bio.“
Phillip Vowles
„Was ich hier mache, ist eigentlich nichts Besonderes, das kriegt jeder hin”, meint er, „man braucht nur Zeit und Geduld.“ Nach jeder Ernte behält er die Samen der größten Pflanzen und sät sie neu aus. „Jedes Jahr werden sie so ein wenig größer.” Phillip beteuert: „Alles ist organisch, was ich züchte, ist 100 Prozent bio.“ Chemische Düngemittel oder Pestizide würde er niemals benutzen. Allerdings gibt er der Erde mit Zuckerrohrmelasse extra Mineralstoffe und macht die Pflanzen damit auch widerstandsfähiger gegen Krankheiten. Nur sechs Wochen dauert es von der Aussaat bis zur Ernte einer Neun-Kilo-Gurke.
Eine seiner Gurken brachte ihm vor 20 Jahren einen Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde. Nun hofft Phillip, dass er auch mit einem XXL-Kohl einen Weltrekord erreicht. Die BBC lädt ihn regelmäßig in TV-Shows ein, sogar CNN schickte kürzlich aus New York ein Filmteam. Und so stolz ihn diese Aufmerksamkeit auch macht, es ist nicht der Grund für sein Tun: „Mein Gemüse ist zum Essen da. Nicht zum Anschauen. Wer in seinem Leben schon einmal Hunger gelitten hat, weiß, dass Lebensmittel keine Dekoration sind.“
Mein Gemüse ist zum Essen da. Nicht zum Anschauen."
Phillip Vowles
Natürlich kann Phillip nicht alles selbst verbrauchen, was in seinem Garten wächst. Das meiste verschenkt er. Geld hat er noch nie für die Nahrungsmittel genommen, auch das ist eines seiner Prinzipien. Die Nachbarn bekommen Dutzende Gläser Kürbis-Chutney, eingemacht von seiner Frau Brenda. Der Dorfpub serviert Phillips Mega-Kohl zum Sonntagsbraten. Die Kirche nutzt die Giga-Kürbisse als Altarschmuck. Und dann kommt jeden Monat eine Schulklasse vorbei. Phillip erklärt den Kindern, wie man Gemüse anbaut, zeigt ihnen, dass Tomaten, Karotten, Zwiebeln und Lauch nicht im Supermarktregal wachsen. Und gibt jedem einen Korb mit nach Hause.
Phillip hat 10 Enkelkinder – die Vowles sind heute wieder eine Großfamilie. Jedes Jahr im Herbst treffen sich alle zu einem Erntedankfest. Dann sitzen sie an einem langen Tisch im Schrebergarten. Vor mehr als vollen Tellern. Hier wird keiner hungrig aufstehen, dafür hat Phillip gesorgt. Und wenn seine Enkel mit großen Augen über sein Riesengemüse staunen, wenn sie sich lachend in den ausgehöhlten XXL-Kürbissen verstecken – dann weiß Phillip: Er erntet, was er sät.
Text: Reinhard Keck | Fotos: Laura Huhta