Ein 100-Jähriger baut seine Welt
Paul Schmiedmaier aus Kärnten ist 100 Jahre alt, sägt und hämmert immer noch täglich an seiner Miniaturwelt aus Holz. Er baut seit Jahrzehnten Bauernhäuser im Kleinformat – nach Vorbildern aus seiner Kärntner Heimat. Originalgetreu, aber ohne exakte Pläne.
Als Paul Schmiedmaier sein erstes, noch simples Holzhaus baute, war er gerade einmal zehn Jahre alt. Holzbauarbeiten hatten Paul, der inzwischen 100 Jahre alt ist und sein ganzes Leben im Kärntner Unterland verbracht hat, schon immer fasziniert. Also besorgte er sich damals, im Sommer 1931, ein paar Bretter, Hammer und Nägel. Sägte die Bretter in Form, hämmerte sie zusammen und deckte dann das Dach mit einfachen Holzschindeln. Die hatte er heimlich bei der Großmutter abgezweigt.
90 Jahre später zieht es Paul, gelernter Tischler, immer noch regelmäßig in seine Werkstatt. Dort baut er einfach immer weiter. Aus den ersten Modellbau-Versuchen als Kind ist lange schon ein ganzes Miniaturdorf gewachsen. Sein ganz persönliches „Mini-Minimundus“, in Anlehnung an die berühmte Miniaturwelt in Kärntens Landeshauptstadt Klagenfurt. Und bis auf den Umstand, dass er inzwischen fast taub ist, ist Paul körperlich topfit.
Der Winter hat begonnen in den Bergen in Kärnten, Österreich. Es hat geschneit in Unterloibl, dem kleinen Ort, den Paul seit 70 Jahren sein Zuhause nennt. Tagsüber sollen noch mal 20 bis 30 Zentimeter Schnee dazukommen. In dem kleinen Bergtal ist das jedoch nichts Ungewöhnliches. Seine Modellhäuser, die Paul quer im Garten verteilt hat, sind bereits unter einer dicken Schneedecke verschwunden. Nur bei den größeren Modellen, wie seinem geliebten „Karawankenhof“ oder seiner „Raubritterburg“, ragen die roten Giebel aus dem Weiß heraus.
Für die meisten seiner „Häusl“, wie er sie nennt, heißt es im Herbst: ab in die alte Keusche, ein kleines Bauernhaus. Zur Überwinterung. Das schützt die Holzkonstruktionen vor Fäule. Die alte Keusche, 1743 erbaut, dient Paul als Lager für alles, was sich in 100 Jahren Lebenszeit angesammelt hat. „Meine Tochter hat sie bei der Gemeinde inzwischen als unbewohnbar abgemeldet“, erklärt Paul, während er beginnt, Sachen zwischen den Minigebäuden zu sortieren. Seine Tochter Lisbeth war es auch, die ihn Ende der 50er-Jahre wieder zurück zum Modellbau brachte. „Tati, mach mir a Keischn“, hat die damals Vierjährige zu ihm gesagt. Paul schnappte sich Bretter, Nägel und Hobel und kam dem Wunsch seiner Tochter gerne nach. Das Bauen an dem Modell öffnete ihm die Augen für die Schönheit der ländlichen Architektur im Loibltal. Es blieb aber nicht bei der einen Keusche, er baute Dutzende. Nach und nach kamen immer mehr Gebäude und Nachbildungen dazu. Gezählt hat er sie nie.
Irgendwann stand Paul schließlich in der Klagenfurter Miniatur-Landschaft „Minimundus“ und dachte sich: „So was mache ich auch. Ein ganzes Dorf, mit einer Burg und zehn Häusern. 50 bis 70 Zentimeter hoch.“ Sie lagern gerade über Winter in der Keusche, zwischen alten Möbeln, Bildern und Kisten. An der Wand hängen Abbildungen seines Geburtshauses, von Bauernhöfen oder verschiedenen Stallgebäuden aus der Region. „Die habe ich alle noch im Kopf“, erklärt Paul. Andere Modelle hat er sich aus Eindrücken seines Lebens oder aus Bildern selbst erschaffen. Eine Art Freilichtmuseum für die Nachwelt.
Da die meisten Gebäude seinem Gedächtnis entspringen, baut Paul nie nach maßstabgetreuen Plänen. Die Proportionen stimmen trotzdem: Eine Skizze macht Paul nämlich vor jedem neuen Modell. Ein simpler Grundriss für die Längen- und Breitenmaße und ein Aufriss von der Vorderansicht mit Dach. „Ohne Aufriss kann man keinen Dachstuhl machen“, weiß Paul. Das Hausbauen hatte er sich bei der Arbeit bei der KESTAG, dem ehemaligen Kärntnerischen Eisen- und Stahlwerk in Ferlach, bei Kollegen abgeschaut. „Ich hatte dort in der Tischlerei viel mit den Zimmerleuten zu tun. Da habe ich gesehen, wie das geht“, erinnert sich Paul. „Ein Modellhaus, das ist ja dasselbe. Nur eben kleiner.“
Das Gerüst für seine Modellhäuser baut Paul aus Lärchenholz. „Das hält am längsten und ist einfach am schönsten“, sagt er. Früher nahm er Holzreste bei der Arbeit mit, verstaute sie im Anhänger seines Mopeds. „Ganz korrekt war das nicht, aber ich wurde nie kontrolliert“, zuckt er die Schultern. Später brachten ihm die Schwiegersöhne Holz mit: „Der eine hat über 200 Hektar Wald“, erzählt Paul. Aber auch aus dem Baumarkt kommt Material, wie ein mit Barcode beklebter Balken verrät.
Wie die historischen Vorbilder baut Paul seine Modelle als Holzblockhütten. Dafür sägt Paul das Holz in die notwendigen Längen und Breiten zu. Für die gröberen Arbeiten greift er dafür zu seiner Stichsäge. Für kleine Anpassungen und Korrekturen kommt die Handsäge zum Einsatz. Die Leisten werden danach an den Ecken gefräst, damit die Optik von aufeinandergeschichteten Holzplanken nicht verloren geht. Die so entstandenen langen und kurzen Blöcke schichtet er danach übereinander, bis sie ein Grundgerüst mit Öffnungen für Fenster und Türen ergeben.
Während Heuschober und Stallgebäude meist nur aus Holzleisten bestehen, muss er bei den Keuschen im Erdgeschoss noch eine Steinmauer simulieren. Pauls Trick: Er rührt Fensterkitt an, den er auf die Holzwand streicht. Darüber kommt ein weißer Farbanstrich. Die Musterung in der „Steinwand“ erzeugt Paul mithilfe des Sandbruchs von einem Felsbrocken, den er im Loibltal gefunden hat. „Der ließ sich so schön spalten“, erklärt er. Die Holzleisten, die nicht in Steinwände verwandelt werden, streicht Paul mit Wetterschutzfarbe in Naturholzoptik.
Bei Fenstern und Türen experimentierte Paul zu Beginn noch viel. Die Fensterscheiben in den gehobenen Bauernhäusern bestanden dabei immer aus Glas. Nur bei den Fensterrahmen probierte er es zunächst noch mit einem Weißstrich, den er mit einem Pinsel in die Mitte setzte. „Aber den habe ich meistens gleich weggewischt.“ Stattdessen klebt er nun gestrichene Streichhölzer auf das Glas. Bei den Türen nahm Paul sich einfache Bretter aus Naturholz, in die er kunstvoll verzierte Muster schnitzte. „Aber das war mir irgendwann zu viel Arbeit“, gibt er lachend zu. In seine jetzigen Modelle verbaut Paul einfache, mit Wetterschutzfarbe gestrichene Bretter. Die Balkone hält er ebenfalls einfach – er nagelt mehrere kurze Bretter an eine stützende Leiste.
So manches Modell hat ihn bereits in eine Sackgasse gebracht. Dann legt er die Arbeit daran schon mal für mehrere Wochen zur Seite – und baut an etwas anderem. „Wenn eine Sache nicht funktioniert, dann muss ich den Ärger irgendwie auslagern“, lächelt Paul. Aber wenn die unteren Stockwerke fertig sind, geht es an Pauls liebste Aufgabe: den Dachstuhl bauen. „Das Dach decken, Schindeln machen. Da muss man nämlich denken“, strahlt er. Nach typischer Loibltal-Art deckt Paul seine Dächer rechts und links doppelt mit schmalen Holzbrettern.
Am Dachstuhl eines Bauernhauses arbeitet er momentan auch in seiner Werkstatt, die im ehemaligen Stall der Keusche untergebracht ist. Hier erinnern nur noch ein paar Hörner über dem Eingang daran, dass hier einmal Kühe untergebracht waren. Auf der gut gediegenen Hobelbank steht ein halb fertiges Haus. Die Wände und Decken, ebenfalls aus Lärchenholz, sind bereits zusammengenagelt.
Darüber thront der Dachstuhl. Vier dünne Leisten vertikal und fünf horizontal auf jeder Seite ergeben den Dachsparren für ein einfaches Satteldach. Die Giebel zwischen Decke und Dachkanten sind dünner als die unteren Holzblöcke und vertikal angeordnet. Paul nagelt sie an den Dachbalken fest. Die Schindel formt Paul aus Fichtenholz. Zum einen spaltet es sich viel einfacher als andere Holzsorten. Zum anderen erlauben die dabei entstehenden natürlichen Rillen, dass Regenwasser leichter abläuft. Das Werkzeug, das Paul dafür benutzt, wirkt nicht zufällig antiquiert. „Das ist ein handgeschmiedeter Schindelklieber“, kommentiert er die dünne eiserne Klinge, die von dem hölzernen Schaft in seiner Hand absteht. „Der stammt noch von meinem Urgroßvater. So etwas bekommt man heute nicht mehr.“
Er platziert die Klinge sachte auf einem Fichtenholzscheit und klopft sie mit einem Holzpflock energisch durch das Holz. Es lässt sich mühelos spalten. Die so entstandenen Schindeln montiert er mit kleinen Eisennägeln überlappend auf den Dachbalken. Drei bis vier Tage braucht Paul, um ein Miniaturhaus zusammenzusetzen. In solchen Momenten merkt er dann doch sein Alter.
„Die Hände gehen nicht mehr so gut. Ich bin nicht mehr so gelenkig, wie ich einmal war.“ Früher brauchte er für ein Modellhaus rund 30 bis 50 Stunden in der Werkstatt. Die Burg kam auf stolze 300 Stunden. Außerdem baute er neben seinen Modellen auch gerne Möbel, die er an Freunde und Bekannte verkaufte. Oder Wassermühlen für die Kinder. Das schafft er aber körperlich nicht mehr. Feinfühliger fürs Wetter, ist er inzwischen auch lieber und öfter in den Frühlings- und Sommermonaten als im Winter in der Werkstatt.
Die Arbeit in der Werkstatt hält Paul aber fit – geistig und körperlich. Seit rund 40 Jahren ist er inzwischen in Pension. Seine Frau Agi starb im Jahr 1988, überraschend früh. Und mit 100 Jahren gibt es nicht mehr viele Bekannte im Ort, die er regelmäßig besuchen könnte. Paul sieht das aber pragmatisch. Die Arbeit in der Werkstatt erfüllt ihn seit Jahrzehnten mit Freude. Ein Geschenk, wie er weiß. „Mir hat ein Rentner mal gesagt: Du hast es fein. Wenn du nichts zu tun hast, gehst du in die Werkstatt – bauen.“Auch wenn Paul nur noch wenige neue Modelle baut, die jährlichen Frühjahrsreparaturen halten ihn und sein Projekt „Mini-Minimundus“ weiter am Laufen. Ob Anstrich oder morsches Holz, etwas verlangt immer seine Aufmerksamkeit. Ans Aufhören denkt er nicht. „Irgendwas werde ich immer tun“, sagt Paul. Nur an den Wochenenden bleibt die Tür zur Werkstatt zu. Die gehören den Kindern und Enkelkindern.
Text: Susanne Gottlieb | Fotos: Sebastian Reiser