Glocken für die Ewigkeit
Handwerkliches Können aus der Antike, von Generation zu Generation weitergegeben: In der Glockengießerei Marinelli wird Tradition großgeschrieben. Und Leidenschaft. Die braucht man auch. Denn Glockengießen ist ein Knochenjob.
Seitdem hat sich nicht viel verändert, wenn man vom Staub absieht, der sich ständig über alles in der Halle legt. Glocken herzustellen produziert jede Menge davon. Nur ein gelber Gabelstapler und etwas frisch gegossene Bronze blitzen aus dem Staubbraun hervor.
Vor ein paar Jahren kam ein neuer, mit Gas beheizter Ofen dazu. Die großen Glocken werden aber noch immer mit Holzfeuer gegossen. „Der alte Ofen ist zehnmal leistungsfähiger“, sagt Armando. Sieht man von ein paar Sägen und Schleifmaschinen ab, käme der Betrieb fast ohne Strom aus.
„Hier ist das Herzstück unserer Fertigung“, sagt Armando und zeigt auf ein paar verstreut stehende Tonkegel. Aus manchen raucht es dezent wie aus einem Vulkan. „Hier wird die Kreatur geboren – die Glocke!“, erklärt Armando stolz.
Er nimmt ein paar Steine in die Hand und eine Maurerkelle. Dann wirft er etwas Mörtel auf einen Steinkreis vor sich, den ein Kollege schon gemauert hat. Armando setzt einen Backstein auf, schmiert den überschüssigen Mörtel an die Seite und nimmt einen weiteren Stein. Wenn Glockengießer über ihr Handwerk berichten, benutzen sie oft Begriffe mit Tiefe: „So wird die Seele der Glocke gebaut.“ Was spirituell klingt oder romantisch, ist in Wahrheit die Form für die Innenseite der Glocke: Der Backstein wird dazu mit Ton überzogen. Aus der Mitte des Steinkreises ragt ein Pfahl mit einem Lager aus Metall heraus. Darin wird eine Stahlschablone so eingehängt, dass sie um den Backsteinbau kreisen und aus dem Ton die exakte Innenkurve der Glocke schaben kann.
Auf diese Tonform wird mit Gips das Modell der späteren Glocke aufgetragen. An der Schablone lässt sich die Klinge der Innenform abnehmen, übrig bleibt dann die für die äußere Form der Glocke. Jetzt fehlen noch die späteren Verzierungen. Die Vorlagen dazu aus Wachs werden auf den Gips aufgebracht. Ob Schriften, Heiligenbilder oder Sterne, alles ist möglich. Dann schmieren die Glockengießer eine feine Tonschicht darauf, auf die wiederum gröberer Ton aufgetragen wird. „Das ist eine Besonderheit unserer Methode“, erklärt Armando. „Andere Gießereien gravieren die Verzierungen, bei uns sind sie Teil der Glocke selbst.“
Besonders stolz sind die beiden Brüder auf noch etwas: Sie dürfen die päpstlichen Insignien verwenden. Dieses Recht kann nur der Papst persönlich verleihen, die Gießerei hat es seit fast hundert Jahren inne. Deswegen hängt vor dem Firmengebäude über der Aufschrift „Päpstliche Gießerei Marinelli“ neben der italienischen und der europäischen auch eine weiß-gelbe Fahne, die des Vatikans. Und auf den Glocken prangt das päpstliche Wappen.
Der Maestro, das ist Antonio degli Quadri, 81 Jahre alt. Er kommt jeden Tag in die Firma, um eine justierbare Stimmgabel an die Glocke zu halten. Eigentlich ist er Elektroschweißer, doch das Testen von Kirchenglocken hat er von seinem Vater gelernt, der auch schon für die Gießerei arbeitete. Wenn alles passt, nimmt die Glocke die Schwingung der Stimmgabel sofort auf und gibt den eingestellten Ton wieder, genau 435 Hertz. Reagiert sie auf eine andere Schwingung der Stimmgabel, beispielsweise das A mit 440 Hertz, dann wird sie wieder eingeschmolzen. Denn gute Glocken schwingen mit genau 435 Hertz. Dann erst macht sich das Instrument auf den Weg fort aus der süditalienischen Provinz, hinaus in die Welt. Marinelli-Glocken hängen im schiefen Turm von Pisa, auch bei der UNO in New York erklingt eine.
Diese Glocke geht nach Süditalien. Sofern sie nicht vom Blitz getroffen wird oder herabstürzt, wird sie dort eine halbe Ewigkeit lang ihren Dienst verrichten. Und wenn Armando zufällig einmal an dem Glockenturm vorbeikommt, während es oben läutet, wird er am Klang voller Stolz und Dankbarkeit erkennen, dass diese Glocke einst unter seinen Händen entstand.
Text: Sandro Mattioli | Fotos: Roberto Salomone