An manchen Tagen will ich einfach nur noch in den Wald. Die Freiheit spüren, wieder zum wilden Kerl werden. Abseits aller Wege zwischen Fichten, Tannen und Buchen gehen, auf den Fährten von Füchsen und Wölfen. Abends, wenn es eigentlich Zeit wäre, in die Zivilisation zurückzukehren, höre ich dann oft eine leise innere Stimme. „Bleib doch noch“, flüstert sie.

Und tatsächlich würde ich gerne. Denn soviel ist klar: Wer sich nach einem Tag im Wald am Abend wieder ins warme weiche Bett verkriecht, hat von wahrer Freiheit wenig verstanden. Und wer eine Nacht da draußen nur dank Schlafsack, Zelt und Luftmatratze übersteht, irgendwie auch nicht so recht.

Also, wie machen das die Profis? „Wir bauen eine Shelter, eine einfache Outdoor-Behelfsunterkunft“, erklärt mir Arnaud Gagné. „Das geht allein mit natürlichen Materialien, die findet man leicht. Die perfekte Lösung, auch wenn man mal unerwartet im Wald übernachten muss.“ Der kanadische Wildnisführer war früher Tischler und Skilehrer, lebt jetzt auf Salt Spring, einer Aussteiger-Insel vor der Pazifikküste bei Vancouver – und hat sich bereit erklärt, mich fit für den Wald zu machen.

Arnaud Gagné

Wir streifen durch dichtes Unterholz, klettern über umgestürzte Baumstämme, begutachten den moosigen Boden. Beim Shelter-Bau, begreife ich bald, gilt der gleiche Grundsatz wie beim Hauskauf: Lage, Lage, Lage! Was einen guten Bauplatz auszeichnet? „Er sollte leicht erhöht liegen, in Senken wird es schnell mal feucht“, erklärt Arnaud. „Starke, kräftige Bäume schützen vor Regen. Kränkliche oder tote Gehölze sollte man aber meiden, weil sie bei Sturm umstürzen können.“ Im Schatten einer knorrigen Erle finden wir schließlich den geeigneten Platz. Los geht’s? Noch nicht ganz. Arnaud lässt erstmal eine Handvoll Tabak zu Boden rieseln – ein indianisches Dankbarkeitsritual.

Autor Sascha Borrée und Wildnisführer Arnaud Gagné zelebrieren das indianische Dankbarkeitsritual bevor sie beginnen eine Shelter bauen

Wir suchen nach drei dicken, geraden Ästen für das Grundgerüst der Shelter: einer deutlich länger als ich selbst, die beiden anderen sollten mir ungefähr bis zur Hüfte gehen. Mit der Säge sorge ich für das richtige Maß, danach spitze ich mit einem Messer die zwei kürzeren Äste an, ramme sie schräg gegeneinander geneigt in die Erde. Im rechten Winkel lege ich das Ende des dritten Asts auf ihren Schnittpunkt. Das so gebildete Gestell erinnert erstmal an eine dreiseitige, stark in die Länge gezogene Pyramide. Ich sammele weitere Äste, lehne sie dicht nebeneinander schräg auf den langen Ast – was die Pyramide langsam wie ein Walfisch-Skelett aussehen lässt. Dachfirst, Dachstuhl, Giebel: fertig.

Das Shelter Grundgerüst wird von Sascha mit Ästen und Zweigen verkleidet

Das große Sammeln geht aber noch weiter. Gefragt: wieder Äste, diesmal mit vielen Zweigen und möglichst sogar Blättern oder Nadeln dran. Wir lehnen sie erst vertikal an das Skelett, flechten weiteres Geäst horizontal ein, füllen so die letzten größeren Löcher. Langsam verdichtet sich, was später zugleich Dach und Wand meiner Behelfshütte sein soll. Den Boden der Shelter belege ich noch mit abgeschnittenen Tannenzweigen – fast schon kuschelig weich fühlt sich das an. Ziemlich zugig sieht’s aber trotzdem noch aus.

Sascha legt den Shelterboden mit Tannenzweigen aus

Also geht’s jetzt ans Dachdecken. Was wir statt Schindeln oder Ziegeln verwenden? Logisch: Laub. Schnell gefunden? Sollte man meinen, bei einem Bauplatz mitten im Wald. Wir brauchen aber nicht bloß ein paar Blätter, sondern ziehen immer größere Kreise um unseren Standort. Schleppen das Laub säckeweise heran, gießen es über der entstehenden Shelter aus. Per Handarbeit bessere ich nach, das Laub will schön gleichmäßig verteilt sein. Wie dick diese Blatt-Schicht werden soll? „Mach mal ganz nach Gefühl“, weist mich Arnaud eher wolkig an. Nach einer Weile werfe ich ihm fragende Blicke zu: Genug jetzt? „Hmm. Schon nicht schlecht“, antwortet der Wildnis-Experte, „doppelt oder dreimal so viel wäre aber besser. Du willst ja nachts nicht frieren. Und vor allem nicht nass werden. Bei einem halbem, besser einem ganzen Meter wird’s ziemlich wasserdicht.“

Das Shelterdach wird von Sascha per Hand mit Laub abgedichtet

Die Sonne steht schon tief, schickt ihre letzten Strahlen durch den Wald. Zeit für die ultimative Shelter-Bauphase: Mit einem Messer und meinen Fingerspitzen löse ich möglichst lange, breite Rindenstücke von den Stämmen gefallener Bäume. Ich lege sie erst der Länge nach auf den Dachfirst, verkleide dann das komplette Dach. „Die oberen Stücke sollten die unteren immer überlappen. Nur so kann Regen richtig abfließen“, mahnt Arnaud. Klar: das klassische Dachdecker-Prinzip.

Sascha schält mit bloßen Händen die Rinde in großen Stücken von gefallenen Bäumen

Mit der Dämmerung kriecht mir langsam die Kälte in die Kleidung. Ich mache Feuer, wärme mich, will schon in meinen Schlafsack schlüpfen. „Was soll das denn werden?“, fragt Arnaud. „Den brauchst du doch nicht, Blätter halten dich genauso warm.“ Wie bitte? Ich sehe ihn zweifelnd an. Aber ja, ich habe richtig gehört. Ein letztes Mal sammeln wir Laub, füllen nach und nach die ganze Shelter damit aus. Schließlich schiebe ich meinen müden Körper zwischen die Blätter, verabschiede mich von Arnaud, der mit großen Schritten durch das Unterholz davonstapft.

Sascha wärmt sich vor dem selbstgebauten Outdoor Shelter am Feuer

Für eine Weile scheint alles still zu sein. Doch bald beginnt der Wald zu mir zu sprechen. Er knackt, rauscht, raschelt. Er summt, ruft, seufzt. Singt mich langsam in den Schlaf. Endlich, denke ich, ich kann es endlich hören: das Wiegenlied der wilden Kerle. Dann schließe ich die Augen. Die Nacht kann kommen.

Text: Sascha Borrée | Fotos: Peter Holst