Mission Kugelmühle
Flügel, Läuferblock und Wasserkraft: Stefan Metzler ist Kugelmüller. Die Mühle dafür: eigenhändig gebaut.
Wenn Stefan Metzler seine Ernte einfährt, wird er nass von oben bis unten. Er zieht Gummistiefel und eine Anglerhose an, manchmal sogar einen wasserdichten Hut, steigt in den Seebach hinunter, geht im glitschigen Bachbett zu seinen Mühlrädern und öffnet die Mahlwerke. Das eiskalte Wasser rauscht an ihm vorbei. Wie ein Bauer, der am Morgen im Hühnerstall die Eier aufklaubt, holt Stefan ein paar Dutzend Marmorkugeln aus den Rillen, in denen der Bach sie in zigtausend Umdrehungen rundgeschliffen hat. „Gut gelaufen“, sagt der 56-Jährige und hält einige der Steinkugeln ins Morgenlicht, das schräg ins düstere Bachbett fällt, „diesmal ist keine beim Mahlen zerbrochen.“
Stefan hat sich in den vergangenen 16 Jahren einen Traum erfüllt: Aus dem Nichts schuf er im Alleingang eine Kugelmühle in seinem Heimatort Neidlingen am Rand der Schwäbischen Alb. Stefan ist Sicherheitsingenieur. Jetzt hat er einen Nebenberuf: Kugelmüller. Jemand, der aus Gesteinsbrocken Murmeln in verschiedenen Größen herstellt. Schaumühlen, die für Touristen das alte Handwerk präsentieren, gibt es noch einige wenige im Land. Doch Stefan betreibt die einzige produzierende Kugelmühle in Deutschland.
„Ein bisschen komplex“, sagt Stefan immer wieder, wenn er das Projekt seines Lebens beschreibt. Gebäude, Mühlrad, Mahlwerk, Steinauswahl, Rohlingherstellung, Poliermaschine: „Ich musste fast alles selbst ausdenken, entwerfen, planen, herstellen, ändern und optimieren.“ Er lächelt: „Ist ja auch nicht verwunderlich: Etwas Einzigartiges kann man nicht von der Stange kaufen. Und Kugelmühlen hat niemand im Angebot.“
Mir ist die Freiheit wichtig, alles so zu machen, wie ich es will. Richtig halt. Keine Kompromisse.“
Stefan Metzler
Die Podcast-Folge dazu
Lieber zuhören, statt lesen? In unserem Podcast " Werkstattgespräche" erzählt Stefan über seine selbstgebaute Kugelmühle und das alte Handwerk, das dahintersteckt.
Stefan ist Bergwanderer. Auf Kugelmühlen stieß er bei Streifzügen in den Alpen. Das war zu Beginn der Neunziger. „Es hat mich sofort gepackt, als ich den alten Kugelmüllern über die Schulter schauen durfte“, erinnert er sich. Immer wieder besuchte er sie, sprach mit ihnen, inspizierte Hunderte Jahre alte Anlagen, recherchierte die Geschichte der Mühlen in Europa, studierte die Geologie seiner Heimat: „Und dann hab ich einfach angefangen.“
Die Mühle
Von der Gemeinde mietet er ein altes Waschhaus, mitten im 1800-Einwohner-Ort gelegen, als Manufaktur für die Murmelrohlinge. Das Gebäude am Bach stammt von 1888. Hier haben die Neidlinger bis 1974 ihre Wäsche gewaschen, erst an Waschbottichen, zuletzt mit Waschmaschinen. In einer Ecke der Gebäudes liegt heute noch ein Blechschild: „1/4 Std. Buntwäsche mit Dampf: 4,50 DM“. Stefan renoviert das von Efeu überwucherte Backsteinhaus: „Es gab eine einzige Lampenfassung im ganzen Gebäude, die Stromleitungen waren locker 80 Jahre alt.“ Die hölzerne Klobrille im Plumpsklo neben dem Gebäude wirkt noch heute, als wäre sie aus dem 19. Jahrhundert.
Aus 100 Kilogramm schweren Eisenträgern und selbst konstruierten vier Meter langen Holzrinnen errichtet Stefan 50 Meter entfernt im Bachbett eine Anlage, die das Wasser punktgenau auf die Schaufeln der Mühlräder leitet. Die liegen waagerecht im Wasser. Allein sie sind eine Wissenschaft für sich: Die Flügel aus Lärchenholz bringen den Läuferblock in Bewegung, also den Teil des Mühlrads, der – immer im Wasser – bis zu 300.000 Umdrehungen am Tag aushalten muss. Er besteht aus Buchenholz von einer im Winter gefällten Buche, die auf der Schwäbischen Alb stand. Mehr als 500 Meter über null, von einem Nordhang. Härtestes Holz. Bevor es als Läuferblock in die Mühle eingebaut werden kann, kommt es für 15 bis 18 Monate in den Bach, die Oberseite ragt aus dem Wasser. So verdunstet das Bachwasser durch die Scheibe hindurch, die im Wasser enthaltenen Mineralien reichern sich im Holz an und härten es aus. Dann läuft es etwa zwei bis drei Jahre in der Mühle. „Macht man diese Prozedur nicht, ist ein Mühlrad nach drei Monaten verschlissen“, sagt Stefan.
Das Material
„Ein bisschen komplex“ ist eigentlich alles. In den am Untergrund im Bach fixierten Mühlstein, einen besonders harten Sandstein, hat Stefan Rillen gefräst. Darin rotieren die Steinrohlinge und werden zu ihrer runden Form gemahlen. Das „Mahlgut“, die Steine, müssen natürlich erst einmal gewonnen werden. Acht Steinbrüche im Umkreis von 80 Kilometern fährt der Herr der Murmeln ab, um Riff-, Lagunen- und Muschelkalk zu gewinnen, kristallinen Kalk – auch als Marmor bekannt. Aus den 15- bis 20-Kilo-Brocken bohrt er mit eigens umgebauten Säulenbohrmaschinen 20 Zentimeter lange Bohrkerne. Als Ingenieur hat Stefan eigene Verfahren entwickelt und Maschinen modifiziert: „Andere Kugelmüller zersägen Marmorblöcke und bearbeiten dann teils mit dem Stockhammer die entstandenen Würfel, bis sie ungefähr die richtige Form haben. Es geht natürlich auch professioneller“, sagt er und lächelt verschmitzt. Er bohrt die Bohrkerne in mehreren Schritten aus verschiedenen Raumrichtungen und bringt sie so in Form. Mit einem Bohrschleifer schleift er dann die acht „Hörnchen“ ab, die an dem kugelförmigen Etwas noch hervorstehen.
Effizienz ist alles
„Je gleichförmiger Größe und Form der Rohlinge, desto rollfähiger sind sie, desto flotter geht das Mahlen“, erklärt Stefan. Klar, wären die Rohlinge unterschiedlicher Größe, würde zuerst der größte abgeschliffen, bis er die Größe des zweitgrößten hätte. Diese beiden dann, bis sie die Größe des nächstkleineren Steins hätten. Und so fort, bis alle dieselbe Größe hätten und gleichzeitig in den Rillen des Mahlsteins geschliffen würden. „Das dauert länger und ist nicht effizient“, rümpft Stefan die Nase.
Wasser ist ein Faktor, der einen demütig werden lässt gegenüber der Natur.“
Stefan Metzler
Effizienz. Das Schlüsselwort für Stefan: Wie müssen die Läuferflügel des Mühlrads zum Wasserstrahl des Bachs stehen? Entstehen aus dem Kalk aus Erkenbrechtsweiler oder dem aus Marbach-Rielingshausen hübschere Kugeln? Wie muss der Rillenkanal aussehen, in dem sich die Murmeln drehen? Doch wenn es ums Wasser geht, wird alles wieder etwas willkürlicher, unberechenbarer. Er, der viel Wintersport macht, wusste aber: „Kaltes Wasser ist schwerer, fließt schneller. So bleibt es länger auf den Mühlenflügeln. Winter ist also die beste Produktionszeit mit den besten Bedingungen.“
Perfekt ist eine Wassertemperatur von vier Grad, da dreht sich die Mühle bis zu 300.000-mal am Tag. Im Sommer sind es gerade mal bis zu 160.000 Umdrehungen, da dauert ein Mahlgang 22 bis 24 Stunden; im Winter sind die Kugeln kürzer auf dem Mahlstein – außer Stefan verringert die Wassermenge, die aufs Mühlrad trifft. Auch die Mondphasen beeinflussen die Murmelproduktion: Um die Vollmondzeit wird das Wasser nachts leichter, da die Gravitation des Mondes der Gravitation der Erde entgegenwirkt. Damit fehlen die erhöhten Nachtdrehzahlen, ein Mahlgang dauert dann etwa anderthalbmal so lange. „Das Wasser ist ein Faktor, der einen demütig werden lässt gegenüber der Natur“, betont er.
Deutschlands einziger Kugelmüller ist Perfektionist, Tüftler, Erfinder und ein wenig auch Eigenbrötler. Staatliche Fördermittel für seine „Mission Murmel“ lehnt er ab. „Mir ist die Freiheit wichtig, alles so zu machen, wie ich es will. Richtig halt. Keine Kompromisse“, betont Stefan. So steckte er Zigtausende Euro in seinen Betrieb, alles finanziert durch den Verkauf der Steinkugeln. Und arbeitet neben seiner 50- bis 60-Stunden-Woche als Ingenieur abends, morgens und an den Wochenenden in seiner Mühle. „Es ist wie mit Kühen, die muss man auch melken, wenn man müde ist oder mal keine Lust hat“, sagt er. Zu tun gibt es immer was. Am Gebäude. An den Werkzeugen. An der Mühlenanlage, wenn mal Treibgut die Rinnen und Räder beschädigt. Viel zu selten stellt er sich in den Bachlauf an seine Mühlräder, macht die Augen zu und lauscht. „Das Rauschen klingt jeden Tag ein wenig anders“, sagt er nachdenklich, „es ist wunderschön.“ Es sind diese 30 Sekunden, in denen er weiß, warum er das alles macht. „30-Sekunden-Urlaube“, nennt er sie.
Stefan ist ein Besessener. Im heimischen Keller hat er einen Schleifbock umgerüstet und eine Poliermaschine für seine Kugeln konstruiert. „Exzentrische Platten mit Filz aus Schafwolle“, erzählt er mit blitzenden Augen, „die Steinkugeln werden bis zu 160 Grad warm, funkeln danach fast und sind glatt ohne Makel.“ Letztlich ist es das Ziel seiner Mission, die vollkommenste Form herzustellen, die Urform des Universums. Bis auf ein Hundertstel Millimeter rund sind seine Kugeln, obwohl die perfekte Kugel zu schaffen „rein mathematisch betrachtet unmöglich ist“, wie er sagt. „Zellen und Planeten haben diese Form – und die Kugeln der Kugelmühle Neidlingen.“
Wenn Stefan Metzler seine Marmorbrocken an der Straße entlangschleppt oder mit einem Plastikeimer voll frisch gemahlener Kugeln aus dem Dorfbach klettert, grüßen ihn die Nachbarn, Mountainbiker oder Touristen, winken oder recken den Daumen nach oben. „Mein Produkt ist beglückend“, sagt Stefan, „es entspannt. Es entstört. Es bringt den Menschen dazu, sich zu fokussieren.“ Er erzählt, wie Besucher immer wieder nur gedankenverloren im Raum der Manufaktur stehen und die Steinkugeln einfach in der Hand halten, ihre Form fühlen, ihr Gewicht, die Glattheit. Und betont: „Ich schaue die Menschen an und freue mich darüber, dass ich dazu beitragen kann, dass es ihnen gut geht.“
Seit Jahrhunderten gelten Murmeln nicht nur als Spielzeug oder Deko-Artikel, sondern auch als Talisman, Glücksbringer oder Träger von Energie. „Manchmal stelle ich mir vor, was ich da eigentlich halte“, sagt Stefan, „250 Millionen Jahre Erdgeschichte, gepresst in eine kleine Kugel.“ Er berührt sanft die Oberfläche einer kaffeefarbenen Murmel, streichelt mit den Fingern darüber: „Letztlich hat man die Ewigkeit in der Hand.“
Text: Stefan Wagner I Fotos: Frank Bauer
Die Kugel rollt
Wer mehr zu Stefan und seiner Kugelmühle erfahren will, der kann das hier tun.