Wohnen im Mehlsilo
Ein fensterloser Quader aus Backstein, ohne Etagen oder Zimmer, dafür mit sechs riesigen Silos – das sollte ein Zuhause sein? Wurde es. Und das Lebensprojekt von Korinna und René Knackstedt.
Wenn Korinna Knackstedt heute durch ihr Zuhause läuft, lächelt sie. Vor rund 15 Jahren, als ihr Mann René ihr die Immobilie zum ersten Mal zeigte, sah das anders aus. „Wie klein das alles ist, wie soll man sich darin wohlfühlen“, fragte sie sich damals.
Die Immobilie, um die es geht: ein altes Backsteingebäude mitten in der Neustadt von Quedlinburg (Harz) in Sachsen-Anhalt. Das fensterlose Mehllager gehörte zu einer Großbäckerei, die nach der Wende pleite war. René – gelernter Zimmerer- und Tischlermeister, inzwischen Angestellter für die Konstruktion und Produktion von Dachstühlen – hat das alte Mehllager entdeckt. Rund 360 Quadratmeter Wohnfläche, seit 15 Jahren ungenutzt, zugestellt mit sechs Silos. Dazwischen: nur zwei schmale Gänge. Nichts als verschenkter Platz.
Das Paar kaufte das Mehllager für 5.000 Euro. René baute sofort ein 1×1 Meter großes Modell. Und Korinna? Freundete sich langsam mit dem Gedanken an, in einem Mehlsilo zu wohnen. Beiden war von Anfang an klar: Ihr Haus sollte modern und lichtdurchflutet sein. Vieles wollten sie selbst umbauen. Ansonsten viel Ursprüngliches beibehalten. Darunter auch die 65 Zentimeter dicken Wände. Sie zeugen noch heute davon, dass das Gebäude 1890 als Eislager für eine Brauerei gebaut worden war – lange bevor es ab 1960 von der Bäckerei genutzt wurde.
Gesagt, getan. Ganz so schnell geht’s dann aber nicht. Die riesigen Mehlsilos im Inneren des Gebäudes werden die Knackstedts nicht so leicht los. Stahlbetonbehälter, drei Meter breit, vier Meter lang, acht Meter hoch. Die Entscheidung: Ein Bagger muss her, der die Silos wegmeißelt.
Doch wie passt so ein großes Baugerät in das enge Gebäude? Sie recherchieren im Internet, kontaktieren Bauexperten. „Eine Firma wollte die Silos sprengen“, erzählt der 42-jährige Bauherr, „aber das war wegen der Nachbargebäude zu gefährlich.“ Ein anderer wollte sie mit Lasertechnik zerstören – viel zu teuer. Und nun? René und Korinna sind ratlos. Aber sie geben nicht auf. „Wo andere hinschmeißen, wollen wir erst recht eine Lösung finden“, sagt Korinna. Ihre Idee: das Haus einfach aufschneiden, mehr Platz für den Bagger schaffen. Geht das? Eine Spezialfirma sagt Ja, rückt an, schneidet mit einem Diamantseil zwei bis fünf Meter breite und sechs Meter hohe Löcher in die Fassade.
Praktisch: Dank der Öffnungen in der Fassade gibt’s jetzt genügend Platz für den Bagger, und es kommt Licht ins Haus. Plus: Es gibt genügend Platz für große Fenster, die sich beide wünschen. Und sie haben Glück: Es liegt kein Mehl mehr in den Silos. Das hätte sonst wegen erhöhter Explosionsgefahr teuer abgetragen werden müssen – aufwirbelndes Mehl und Luft bilden ein brennbares Stoffgemisch. Doch so kann der Bagger direkt anrücken. Aus sechs Stahlbetonbehältern werden 100 Kubikmeter Schutt. Korinna und René machen sich an die Arbeit, Nachbarn und Freunde packen mit an.
Die Silos sind raus, René und Korinna ziehen ein. In ihre „Turnhalle“ – so nannten sie damals das leere Gebäude. Seine Mietwohnung kündigt das Paar, das gesparte Geld fließt zu 100 Prozent ins Projekt. An diese Zeit erinnern sich die beiden gerne: „Wir haben uns einen Klappfix organisiert, einen Wohnzeltanhänger, und den mitten ins Gebäude gestellt, Platz war ja da“, sagt Korinna. „So konnten wir schon morgens vor unseren Jobs auf der Baustelle anpacken. Nach Feierabend haben wir weitergearbeitet bis spät in die Nacht.“ Und mittendrin in dieser Zeit werden Korinna und René zum ersten Mal Eltern. Das hält sie nicht davon ab, das alte Gebäude weiter umzubauen.
Sie montieren Stahlträger an Wände, schneiden Deckenbalken zu, setzen sie ein, teils mit der Hilfe von Freunden. Ein paar Jahre später bekommt die Familie erneut Zuwachs. Wie ihre große Schwester wächst auch Finja in einem unfertigen Haus auf. „Wir haben das Projekt nie als Belastung empfunden“, erzählt Korinna, „im Gegenteil: Wir standen immer voll und ganz dahinter. Und auch unsere Kinder lieben ihr Zuhause.“ Das nimmt nach und nach Gestalt an. Mit Backsteinen aus Fensterdurchbrüchen baut das Ehepaar Wände im Erdgeschoss. In den oberen Etagen ziehen die beiden Fachwerkwände, füllen sie mit altem Lehmstein aus einer Abrissscheune in der Nachbarschaft. Die Füllung für den Raum zwischen den Balken mischt René selbst: aus Lehm, Stroh, Kalk und Pferdehaar. Wie das funktioniert, weiß er noch aus Tischlerzeiten.
Anderes schauen sie sich bei Freunden ab, zum Beispiel einem Heizungsbauer. Sein Tipp: keine normalen Heizkörper, sondern Boden- und Wandheizung einbauen. Das setzt das Paar gemeinsam mit dem Fachmann um. Zum Glück: So entdecken sie zufällig den Hausschwamm, der bereits eine Seite des Gebäudes befallen hatte – und können ihn rechtzeitig bekämpfen. Die zwei Bäder baut das Ehepaar selbst aus. Nur für die Sanitärinstallation holen sie sich fachliche Hilfe.
Die Dachterrasse – für beide ein echtes Herzensprojekt: 16 Kubikmeter Granulat, Grundlage für die spätere Bepflanzung, werden per Schlauch und riesiger Pumpe aufs Dach geschafft. Vier Kubikmeter Pflanzerde und acht Kubikmeter gewaschener Kies folgen. Dann legen die beiden selbst Hand an – und erschaffen eine grüne Oase mitten in der Stadt.
Wir haben den Umbau des Mehllagers immer als unser Lebensprojekt gesehen, das gemeinsam mit uns wächst.“
Korinna Knackstedt
Und heute? Findet man überall im Gebäude Details aus vergangener Zeit: unverputzte Wände, die den Blick auf das massive Gebäudefundament eröffnen, und eine freie Treppe, die die Ebenen verbindet und den Fabrikcharakter bewahrt. Genau so hat es sich das Ehepaar gewünscht, genau so umgesetzt. Und es geht weiter. Denn fertig sind sie mit ihrem Haus noch lange nicht. Dafür haben sie einfach zu viele Ideen – und zu viel Spaß am Bauen.
Text: Stefanie Matousch | Fotos: René & Korinna Knackstedt, Christian Werner